Prof. Dr. Berndt Ostendorf (LMU München): "'Leitkultur' oder 'Multikulturalismus'? Nationale Identit?t in den USA und Frankreich im Vergleich"

28.11.2011, 12:15 Uhr, U2/00.25

In den USA dominiert eine starke Zivilgesellschaft über einen schwachen zentralen Staat, in Frankreich dominiert der zentrale Staat über eine schwache Zivilgesellschaft. Im ersten Fall wird der politische Partikularismus, im zweiten der Universalismus gef?rdert. Das mag den Erfolg des Multikulturalismus in den USA und sein angebliches Scheitern in Frankreich prima facie erkl?ren.
Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Die transatlantische Spannung zwischen den politischen Kulturen hat auch eine jeweils nationale Spielart. Die zivilgesellschaftliche Integration der Einwanderer, der Erfolg der Bürgerrechtsbewegung und die Akzeptanz des ethnokulturellen Pluralismus in den USA, die die Debatte zum Multikulturalismus erst in den achtziger Jahren in Gang gesetzt haben, stellen in der Tat ein historisches Gegenmodell zu Frankreich dar. Aber die Zeiten des programmatischen Multikulturalismus sind auch in den USA vorbei. David Hollinger spricht vom postethnischen Amerika, Anthony Appiah l?utet eine transnationale, kosmopolitische Wende ein und Samuel Huntington stellte kurz vor seinem Tode die bange Frage: Who Are We? und rief zur Wiederbelebung einer WASP-Leitkultur auf.
Der franz?sische Staat und seine derzeitigen Repr?sentanten halten offiziell am universalistischen, jakobinisch-republikanischen Prinzip der citoyenneté fest. Der Multikulturalismus, so Sarkozy, habe versagt, es gibt nur eine Leitkultur: die francité. Gleichwohl findet in Frankreich eine graduelle Hinwendung zu amerikanischen zivilgesellschaftlichen Mustern statt insofern, als Einwanderer nicht nur mehr als Rohmaterial für den franz?sischen Schmelztiegel gesehen werden, denen eine jakobinisch-republikanische Identit?t aufgezwungen wird, sondern zusehends vom Staat als Mitgestalter bei der Neudefinition der franz?sischen Identit?t ernst genommen werden. In diesem Sinne sendete Arte ein Programm über den Beitrag des Islam zum franz?sischen nationalen Erbe.
Nun setzt sich überall in der Welt eine global-plurale Zivilgesellschaft gegen den Obrigkeits-Staat durch. Der wachsende, ethnokulturelle Pluralismus, von der digitalen Globalisierung beschleunigt, ver?ndern die Gesamtgemengelage auch au?erhalb der USA: eine Art graduelles, multikulturelles ?Realignment“ der nationalen Identit?ten findet statt. Diese neue Politik der Anerkennung macht sich auch in Frankreich bemerkbar, wo sie einen multiculturalisme tempéré akzeptabler macht. Und Amerika wird wieder republikanischer, wenn auch nur seine Exekutive: Mit Barack Obama ist der erste nicht-wei?e Pr?sident im Amt, der einen rigorosen Universalismus und einen klassischen Verfassungspatriotismus predigt, der Identit?tspolitik vermeidet und den Multikulturalismus als ?Psychodrama der Baby Boomer Generation“ verspottet.

Berndt Ostendorf ist Professor Emeritus für Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universit?t München; als Gastprofessor war er an der Harvard University, University of Massachusetts, University of New Orleans und Venice International University t?tig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten geh?ren u.a. die multikulturelle und transnationale Gesellschaft der USA, Amerikanisierung und Anti-Amerikanismus im Zeitalter der Globalisierung, die Literatur ethnischer, marginaler und unterdrückter Gruppen in Amerika, u.v.m. Zuletzt erschienen ist "Melting Pot, Salad Bowl, and Gumbo. Die Neue Welt und ihre Küchen: Nationale, regionale oder ethnische?".