Hohe Hürden für Geflüchtete zu Gesundheitsversorgung und Hilfsangeboten
Drei Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) nehmen im aktuellen DIW Wochenbericht Geflüchtete in Deutschland in den Fokus. Die beteiligten Soziologinnen – darunter Prof. Dr. Cornelia Kristen, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie, insbesondere Sozialstrukturanalyse an der Universit?t Bamberg – besch?ftigen sich mit den Fluchterfahrungen sowie der Unterstützung, die Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Deutschland erhalten. Zentrale Erkenntnisse: Die zentrale Mittelmeerroute ist weltweit der t?dlichste Fluchtweg. Die Inanspruchnahme von Hilfen zur Integration bei Geflüchteten ist ungleich verteilt. Und durch die ?nderung des Asylbewerberleistungsgesetzes dürfte sich die Wartezeit auf regul?re Gesundheitsversorgung für Geflüchtete auf zwei Jahre verdoppeln. Die Studien im Detail:
?ber Fluchterfahrungen wollen die meisten Geflüchteten nicht reden
Eine Studie nimmt das Fluchtgeschehen von 2014 bis 2023 in den Blick. In den letzten zehn Jahren kamen die meisten Schutzsuchenden über die ?stliche Mittelmeerroute (35 Prozent) und Westbalkanroute (33 Prozent) in die EU. Die zentrale Mittelmeerroute nutzte etwa jede*r vierte Geflüchtete. Sie hat zuletzt jedoch an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig ist dies global gesehen auch die t?dlichste Route: 63 Prozent aller dokumentierten Todesf?lle von Schutzsuchenden auf dem Weg in die EU ereigneten sich auf dieser Strecke.
Neben der Auswertung der offiziellen Statistiken liefert die Studie auch Einblicke in die Fluchterfahrungen. Berechnungen auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten zeigen: Auch von den Geflüchteten wird die zentrale Mittelmeerroute als besonders gef?hrlich eingesch?tzt. Die H?lfte der Befragten (47 Prozent), die diesen Fluchtweg nutzten, machte negative Erfahrungen. Auf der ?stlichen Landroute machte dies nur jede*r siebte (14 Prozent). Fragt man die Geflüchteten konkret, was sie erlebt haben, werden am h?ufigsten Betrug (24 Prozent), Gef?ngnisaufenthalte und k?rperliche ?bergriffe (jeweils 18 Prozent) genannt. Etwa die H?lfte m?chte aber keine Auskunft über ihre Erfahrungen geben.
?Die Geflüchtete zeichnen ein in Teilen düsteres Bild von ihrer Flucht“, so Cornelia Kristen. ?Gleichzeitig sprechen viele Schutzsuchende, darunter insbesondere Frauen, gar nicht erst über ihre Erfahrungen. Wir erhalten dadurch ein nur unvollst?ndiges Bild.“ Dies erschwere auch, Schutzsuchende nach ihrer Ankunft in geeigneter Weise zu unterstützen, so Kristen.
Geflüchtete erhalten bei ihrer Integration nicht immer die ben?tigte Hilfe
Um medizinische Leistungen zu erhalten, müssen Geflüchtete nicht nur lange Wartezeiten in Kauf nehmen; sie brauchen dafür auch meist Unterstützung. Eine zweite Studie hat den Bedarf an Hilfe in fünf Bereichen untersucht: Zugang zur Gesundheitsversorgung, Asylfragen, Spracherwerb, Arbeitssuche und Zugang zu Bildung. Die Ergebnisse: 98 Prozent der Geflüchteten brauchen Hilfe in mindestens einem dieser Bereiche; 21 Prozent sogar in allen fünf. Den gr??ten Bedarf an Unterstützung gibt es beim Deutschlernen (91 Prozent der Befragten) und beim Zugang zur medizinischen Versorgung (82 Prozent). H?ufig erhalten Geflüchtete aber nicht die ben?tigte Hilfe: So geben 40 Prozent der Befragten an, dass sie Unterstützung bei der Arbeitssuche gebraucht, aber nicht erhalten haben; 34 Prozent betrifft dies bei Asylfragen. Geflüchteten mit einem Bildungsabschluss oder Arbeitserfahrung aus dem Herkunftsland gelingt es besonders h?ufig Unterstützung in Anspruch zu nehmen; Schutzsuchende ohne Abschluss oder Berufserfahrung erhalten seltener Hilfe. ?Ob Geflüchtete die ben?tigte Hilfe erhalten, sollte nicht von einem hohen Bildungsabschluss oder bereits geleisteter Erwerbsarbeit abh?ngen. Das f?rdert ungleiche Startbedingungen und benachteiligt Personen ohne diese Ressourcen, beispielsweise Frauen oder junge Personen“, sagt Studienautorin Ellen Heidinger. Sie empfiehlt, bestehende Angebote niedrigschwellig zu kommunizieren und zu verbreiten. Auch Mentorenprogramme sollten ausgeweitet werden, da sie Integration f?rdern, wie eine frühere DIW-Studie zeigt.
L?ngere Wartezeit für Geflüchtete auf Gesundheitsversorgung
Ende Februar 2024 wurde das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ge?ndert: Geflüchtete erhalten nun bis zu drei Jahre nur eingeschr?nkte Gesundheitsleistungen. Darauf hatten sich Bund und L?nder bereits im November vergangenen Jahres geeinigt. Die dritte Studie im DIW Wochenbericht zeigt: Die Gesetzes?nderung dürfte für Geflüchtete die tats?chliche Wartezeit auf eine regul?re Gesundheitsversorgung von gut einem Jahr auf knapp zwei Jahre fast verdoppeln. H?tte dieser Geltungszeitraum schon in der Vergangenheit gegriffen, so h?tte jede*r zweite Geflüchtete (52 Prozent) sogar die ganze Geltungsdauer des AsylbLG, also drei Jahre, darauf warten müssen. Basis der Berechnungen ist die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten.
Hoffnungen, dass durch die Gesetzes?nderungen Kosten eingespart werden, findet Studienautorin Louise Biddle kurzsichtig: ?Wir wissen aus anderen Studien: Werden Gesundheitsprobleme erst adressiert, wenn dies unerl?sslich ist oder es sich um einen Notfall handelt, ist es meist teurer als eine frühzeitige Behandlung. Die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten einzuschr?nken, wird die Kosten für L?nder und Kommunen also nicht senken.“
Kosten k?nnten eher mit der Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) für Geflüchtete gespart werden. Die eGK ist bisher nur in sechs Bundesl?ndern eingeführt worden; in den anderen müssen Geflüchtete vor einem Arztbesuch einen Behandlungsschein beim Sozialamt beantragen. ?Dies führt zu einem hohen Verwaltungsaufwand, verz?gert die Behandlung und wird von Patient*innen und ?rzt*innen als belastend empfunden“, erkl?rt Louise Biddle. Hamburg kann beispielsweise durch die eGK in der Verwaltung j?hrlich rund 1,6 Millionen Euro einsparen. Die anderen Bundesl?nder sollten daher nachziehen, auch um den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Geflüchtete zu erleichtern.
Die drei Studien zu Geflüchteten in Deutschland erscheinen im DIW Wochenbericht 12/2024, der zu finden ist unter: https://www.diw.de/de/diw_01.c.897128.de/publikationen/wochenberichte/2024_12/heft.html
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Prof. Dr. Cornelia Kristen
Lehrstuhl für Soziologie, insbesondere Sozialstrukturanalyse
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